Montag, 26. November 2012

Zettelkram

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2 DOSEN -Hund


oder:

"Wie kommt das Haftpulver auf Kneipentische?"

(c) christA frontzeck, 1998



Wie geht es Ihnen, wenn Sie in der Schlange an der Kasse eines Supermarktes stehen, sich in Geduld üben oder Zeit haben? Schauen Sie sich in anderen, mehr oder weniger gefüllten Einkaufswagen um und entdecken 2 Dosen -Hund???

Als ich vor Jahren zum ersten Mal einen handgeschriebenen Einkaufszettel aufhob und einen kleinen 'Roman' in wenigen Worten fand, war dies der Beginn einer Sammlung. Käse, HH Papier, Salat, Zitronen, Äpfel Cox orange, Getränke, Bier – stand da in großzügiger, akkurater Handschrift auf großzügig abgerissenem Karo-Papier untereinander, der Rand links genau zwei Kästchen breit, das Wort Bier am Ende unter dem Wort Getränke schlampig, vielleicht in Eile dazugeschrieben.

Seitdem schleiche ich nach beendeten Einkäufen immer noch einmal um die Einkaufswagen herum, um E-Zettel zu finden. Manchmal entsteht ein diebisches Gefühl, wenn zwischen liegen gebliebenen Kassenbons ein handgeschriebenes Etwas blinkt und das im dritten oder vierten der an die Kette angeschlossenen Wagen! Ich gehe nicht auf fremde Menschen zu und frage, ob sie mir nach dem Einkauf ihren Zettel schenken. Ich finde sie und zwar überall, nicht nur in Geschäften, in Parkhäusern, auf der Straße..., auch bei Spaziergängen im Wald, wo weit und breit kein Geschäft in der Nähe ist. Sie fallen aus Mantel- oder Hosentaschen beim Herausholen eines Taschentuchs oder Kaugummis, so vermute ich.

Die Wahl des Papiers, auf dem geschrieben wird, spricht eine, unabhängig vom Wortgehalt, eigene Sprache: es werden ordentliche, quadratische, weiße, farbige, herzförmige oder runde Blockzettel benutzt, abgerissene Kalenderblätter (rückseitig Termin beim Frauenarzt, Heinz!!!) , abgestempelte Briefumschläge, gelbe Klebezettel, das Schild vom Bekleidungsstück eines namhaften Herstellers, Landschaftsfotos, Postkartenstücke, Kneipenblöcke, Rückseiten von Busfahrscheinen oder Kassenbons... In Verbindung mit Handschrift und Wortwahl zeigen sich visuelle und phantastische Einblicke in Familien-, Single- oder Wohngemeinschaftshaushalte, die so nicht in Zeitungen und Büchern zu finden sind.

E-Zettel sind intim, nur für die gedacht, die sie geschrieben haben oder für die Frau, den Mann, das Kind, die Freundin, das Enkelkind, die Haushälterin, den Hauskrankenpfleger, die Nachbarin...

E-Zettel sind verräterisch: sie verraten Nähe und Einsamkeit, Eile, Hektik, Alter, Bedürfnisse und Wünsche, Pedanterie, Vergesslichkeit und Bevormundung, Snobismus, Armut, Luxus, Rechtschreibschwächen, Bildung, Gewohnheiten, Einfallsreichtum, Sparsamkeit, Chaos, Beeinflussung, Bequemlichkeit, Nationalität, Geiz, Großzügigkeit, Unwissenheit, Flexibilität. Sie verraten direkt und unzensiert mehr, als sonst über Mitmenschen zu erfahren ist.

E-Zettel sind nicht nur „Ein echtes Lesevergnügen“, wie Andreas Burgmeier in einer Ausgabe der ZEIT im September 1998 behauptet. Sie sind phantasieanregend und machen gleichzeitig betroffen. Ich habe während meiner Installationen immer wieder festgestellt, daß durch die Betrachtung der Zettel andere, witzige und ernste Gespräche entstanden sind.

E-Zettel lehren den Betrachter Abk.: R-Wine, Zig., kl. Tom., kl.Pa.Co, Supgrü., jogis... Dann wieder sind sie sehr ausführlich: Spülmaschinenputzer, 1 Glas Honig (nicht den dünnflüssigen)... oder exotisch extravagant: Clopapier, Wilkinson-Reise-Lederetui 2x (auf der Rückseite Fetzen eines gedruckten Gedichts: Kretische Du, die blauer Ton Um den Zug Un-geräte Weit verweh), Besteck: Messer 3x, 1x Schiwabschischi, Aufbackbaguette, Gummizitrone, Lederkäs züm Beraten... Manche Menschen kaufen Belach, andere kaufen Belag, Aufschnitt oder Auflage.

Was stellt sich der Mensch aus Fleisch, Kartoffelsalat, Reibe, Schrippen, Tomaten und Hakle für ein Menü zusammen? Welches aus Salat, Wasser, Tee, Honig, Klobrille und Nagellack dunkelrot? Was passiert mit Weintraube, 1xMohrrüben, 3x Paprika, Eier, kl. Pa. Coca, Bier?

Unter Muttis Handschrift Miracel Wipp, Fahrkarte, Persil, Cola (light)... sind Kinderwünsche gekritzelt: Baletschue, Baletanzuck – Danke. Die Familie ißt Fertigkost, fährt mit öffentlichen Verkehrsmitteln, wäscht mit Persil, ist kalorienbewusst und trinkt Cola light – das Kind will zum Ballett.

Wie ist ein Haufen zerknüllter, manchmal verdreckter und zerrissener, achtlos fortgeworfener oder verlorener Zettel, der vieles offenbart zu verwenden? Wie zu ordnen? - Zu ordnen sind sie eigentlich gar nicht, meist handelt es sich um Unsortiertes, manchmal, allerdings nur im Anfangsbuchstaben alphabetisch Geordnetes: Briefmarken, Block, Batterien, Brötchen, Süßes. Mir fehlt die Mentalität, ein Ordnungssystem für Küchenzettel und andere handschriftliche Mitteilungen zu erfinden. Auch sie nach Datum und Ort des Fundes zu katalogisieren, ist sinnlos. E-Zettel zeugen nicht von Jahreszeiten; sie sind zeitlos.

In den ersten Jahren diese Sammelleidenschaft habe ich jedes Fundstück kopiert. Auf den Schwarz-Weiß-Kopien zeigen sich durch Knitter und Dreck skurrile Landschaften. Die Kopien wurden in Klemmhefter geklemmt, in denen geblättert werden kann, als Lektüre zum Entspannen, Anregen und Nachdenken sicherlich wertvoll. An Wilhelm Busch musste ich auch mal denken. - Die Originale wandern in einen Karton zu vielen, die dort schon drin sind, als würden sie auf Tauschgeschäfte warten wie früher Papierserviettensammlungen oder Rosenbilder mit und ohne Glanz.

Küchenzettel“-Sammler sollten sich zusammentun, habe ich gedacht, als ich von anderen Einkaufszettelsammlern hörte und las. Urheberrechtsschutz kann dafür wohl kein Sammler beanspruchen.





1998 und 1999 habe ich in verschiedenen Bezirken der Stadt Kopien auf Tische und Tresen angebracht. So kommt das Haftpulver als Kommunikationsmittel auf Kneipentische!
1999 habe ich im Rahmen des SoToDo 72 Stunden Performance-Kongresses in Berlin einige hundert E-Zettel installiert u.v.m...


(ungekürzte Version des Textes eingestellt am 17. Februar 2013) 

LINKS:
Frankfurter Rundschau, 9.7.98, Rolls/Traubenz/Stöffche/H-Milk (Sandra Dranicke)

ZEITPUNKTE, SFB, 2.12.1998
http://www.ullsteinbuchverlage.de/ullsteintb/buch.php?id=18438
http://www.rowohlt.de/buch/Wigald_Boning_Butter_Brot_und_Laeusespray.2996098.html







 

 




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